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16. Januar 2022

Erweiterter Bericht Interview mit Dr. Stefan Scherr

Leider hatte in unserer Ausgabe 1/2022 in der Druckausgabe nicht der komplette Text Platz.

Dementsprechend veröffentlichen wir das ausführliche Interview mit Dr. Stefan Scherr hier online.

Der Beitrag gehört zum Leitthema „Ernährung“ ab Seite 4. Der folgende Text ist der Artikel in voller Länge der Seiten 9 bis 11. Viel Spaß beim Lesen.

Hier geht es zu den Online-Ausgaben…

Hat Ernährung einen Einfluss auf unsere Gesundheit?
Ursula Charwat im Gespräch mit Dr. Stefan Scherr

In der Nephrologie liegt das Hauptaugenmerk in der Ernährung vor allem bei den Proteinen. Der Begriff „Gesunde Ernährung“ ist schwierig zu definieren, da es so viele unterschiedliche Ernährungsformen gibt und diese in der Wissenschaft schwer zu erforschen sind. Letztendlich sind Fertiggerichte am ungesündesten – also alles mit vielen, verschiedenen Inhaltsstoffen und Phosphat, das für NierenpatientInnen nicht gut ist. Am gesündesten wäre es, wenn man sich Speisen aus frischen Lebensmitteln (ganzen Gemüsestücken und Fleischstücken) selbst zubereitet, dann fallen auch sämtliche Konservierungsstoffe weg.

Erhöhte Kaliumwerte

NierenpatientInnen können sich auch dann noch mit ausreichend Obst und Gemüse ernähren, wenn sie bereits auf ihr Kalium achten müssen. Es ist nur einfach von Smoothies oder Fruchtsäften abzuraten, weil sie Kalium- und Zuckerbomben sind, und auch die Benefits von purem Obst verloren gehen: Wenn sie einen Apfel nehmen und abbeißen, dann sind darin neben Kalium, Zucker u.a. Stoffen auch noch Ballaststoffe enthalten. Und dieser Zucker verwandelt sich mit den Ballaststoffen im Darm zu einer Art Gel, das hauptsächlich die Bakterien im Darm füttert und somit die eigene Darmflora am Leben erhält. Trinkt man aber Apfel­saft, dann geht dieser Benefit verloren, und sie nehmen letztendlich nur viel Zucker und viel Kalium zu sich. Vor allem bei Smoothies sieht ein Glas nach nichts aus, aber darin können schon mehrere Bananen und viel anderes Obst enthalten sein. Müssten sie diese Obststücke wirklich kauen, dann würden sie gar nicht diese Mengen zu sich nehmen können, da sie das Sättigungsgefühl viel früher spüren. Und Softdrinks wie z.B. Cola sind sehr phosphat­haltig und vor allem für NierenpatientInnen mit fortgeschrittener Niereninsuffizienz nicht empfehlenswert.

Eiweißeinschränkungen, pflanzliches oder tierisches Eiweiß?

Wenn man tierisches Eiweiß konsumiert, entsteht in der Niere ein vorübergehender Bluthochdruck, der längerfristig zu einer Nierenschädigung führen kann. Die vegetarischen und veganen Ernährungsformen argumentieren mit diesem, weil bei vege­tarischer Ernährung – also mit pflanzlichem Eiweiß – der Druckanstieg in der Niere geringer sein sollte als bei tierischem Eiweiß. Zusätzlich wird das Phosphat aus Pflanzen weniger leicht in unserem Körper aufgenommen – als Phosphat in tierischen Produkten. Das sind ein paar Argumente, warum vegetarische Ernährung immer wieder empfohlen wird.

Vegane Ernährung

Aus medizinischer Sicht ist vegane Ernährung eher nicht zu empfehlen, da sie das Risiko birgt, dass man sich mit gewissen Nährstoffen unterernährt (Mangelernährung), und als NierenpatientIn mit zu vielen Nüssen zu hohe Phosphatwerte erreicht. Es gibt aber natürlich immer wieder PatientInnen, die sich gut einlesen und informieren, und bei denen die vegane Ernährung gut klappt. Aber gewisse Substanzen wie Vitamin B12 kann man fast ausschließlich über Tabletten zu sich nehmen. Die persönliche Ernährungsform sollte aus ­meiner Sicht am besten so gewählt werden, dass man mit den notwendigen Vitaminen und Mineral­stoffen abgedeckt ist und nicht noch zu­sätzlich Nähr­stoff-Präparate einnehmen muss.

Eiweißeinschränkung bei -Nierenerkrankung

In Studien der 1980er Jahre wurden Nieren­patientInnen eine strenge eiweißarme Diät verordnet. In manchen dieser Studien zeigte sich, dass PatientInnen mit der eiweißarmen Diät im Vergleich zur Kontrollgruppe ihren Dialysebeginn hinauszögern konnten (meist nur wenige ­Monate). Auf diesen Studien beruhen die Empfehlungen, dass PatientInnen mit Niereninsuffizienz ihre Eiweißzufuhr einschränken sollten. Diese Studien sind jedoch von schlechter Qualität und wurden ohne die heute üblichen Medikamente für chronische Niereninsuffizienz durchgeführt. Nachdem diese Medikamente jedoch teilweise über den gleichen Mechanismus (Senkung des Blutdrucks in der Niere) arbeiten, kann man nicht mit Sicherheit sagen, ob eine Reduktion der Eiweißzufuhr während der Therapie mit den ­heutigen ­Standard-Medikamenten überhaupt ­einen Zusatzeffekt hätte. Außerdem gibt es auch Stu­dien die bei PatientInnen, welche sich mit ei­ner stark eiweißreduzierten Diät ernährten, eine höhere Sterblichkeit zeigten. Wenn sich Patient­Innen mit dieser eiweißarmen Diät ernähren, baut auch die Muskelmasse immer mehr ab, und damit sinkt auch das Kreatinin, was daher nicht unbedingt der aktuellen Nierenfunktion entsprechen muss. Wenn man stark unterernährt an die Dia­lyse ­kommt, ist es außerdem nicht förderlich, da unter­ernährte PatientInnen eine schlechtere Dialyse-­Performance haben. Daher sind wir in der Klinik Ottakring mit sehr starken Eiweißeinschrän­kungen vorsichtig.

Nachzusehen im Fachvortrag auf www.selbsthilfe-niere.at

Diabetes bei NierenpatientInnen

Derzeit ist ein Viertel der PatientInnen, die jedes Jahr neu an die Dialyse kommen, Typ 2 DiabetikerInnen. Ungefähr 20% der NierenpatientInnen haben ihre Niereninsuffizienz aufgrund von Blut­hochdruck. Beides sind Zivilisationskrankheiten, die über die letzten Jahrzehnte sehr stark zugenommen haben. Es wird angenommen, dass weltweit zukünftig noch mehr Menschen an Typ 2 Diabetes erkranken werden. Daher werden die DiabetikerInnen bei den niereninsuffizienten PatientInnen immer den größten Anteil haben. Das ist der Grund, warum die Klinik Ottakring ihren Ernährungsfocus in Richtung Kohlenhydratreduktion legt. Wir erforschen gerade, wie sich eine Kohlenhydratreduktion auf Diabetes, Bluthoch­druck und Übergewicht bei PatientInnen mit Niereninsuffizienz auswirkt. Denn das sind alles wichtige Risikofaktoren und ­Ursachen von einer chronischen Niereninsuffizienz. Wenn man diese Risikofaktoren verbessert, dann nehmen wir an, könnte sich auch die Nieren­insuffizienz selbst verbessern. Bei Diabetiker­Innen ohne Nieren­insuffizienz gibt es zum Einsatz ­einer Kohlenhydratreduktion schon gute Studien: Das Übergewicht wird weniger, die PatientInnen brauchen weniger Diabetesmedikation, auch die Insulindosis kann drastisch reduziert oder sogar komplett aufgehört werden…

Auch wenn es standardmäßig so sein sollte, ist es nicht leicht PatientInnen zu einer Medikamententherapie UND Ernährungsumstellung zu bewegen. Denn es geht viel schneller ein Rezept für Tabletten auszustellen, als einen Menschen dazu zu motivieren, seine Essensgewohnheiten und Lebensstil zu ändern. PatientInnen inner­halb von 10 Minuten für eine neue Ernährungsform zu begeistern, ist unmöglich. Bei unseren adipösen PatientInnen und DiabetikerInnen in der Nephro­logie-Ambulanz versuchen wir zuerst herauszufinden, ob überhaupt Interesse besteht. Dann findet ein Gespräch bei uns statt, in dem wir die Basics einer Low-Carb-Diät erklären, damit sie die grundlegenden Mechanismen verstehen und zukünftig zu den richtigen Lebensmitteln greifen. Danach kommen die PatientInnen noch 1-2 Mal zur DiätologIn und besprechen dort noch spezifische Punkte (z.B. ­versteckte Kohlenhydrate, spezifische Situationen…).

Generell muss man aufpassen, dass die Ernährungsempfehlungen für unsere ­PatientInnen nicht überbordend sind. Meine persönliche Meinung: Je einfacher umso besser für die ­PatientInnen. D.h. sich zuerst einmal nur auf ei­nen schlechten Nährstoffwert konzentrieren, und diese Diätanweisungen dann auch konsequent durchziehen. Das ist effizienter, als wenn die PatientInnen eine Liste an Verboten bekommen, und sich dann gar nicht mehr auskennen. Es ist wichtig herauszufinden, was die PatientInnen gerne essen, und am individuellen Geschmack orientierte Alternativen für den Speiseplan zu finden. Da ist es so wichtig, dass genug Zeit ist, um auf die individuellen Geschmäcker und Lebensgewohnheiten der PatientInnen eingehen zu können. Das ist bei Ernährung nicht so wie bei Medikamenten, wenn 10 PatientInnen fast dieselben 10 Medikamente verschrieben werden.

Viele wissen nichts von ihrer Funktionsstörung

Leider bekommen wir in der Nieren­ambulanz unsere PatientInnen meist erst, wenn sie wirklich Probleme und eine fortge­schrittene Niereninsuffizienz haben (Stadium 3A oder 3B = höhergradige Nierenfunktionseinschränkung). Studien besagen sogar, dass 80% der PatientInnen mit einer Nierenfunktionseinschränkung im Stadium 3 gar nichts von ihrer Nieren­erkrankung wissen! Das sehen wir regelmäßig im Spital in der Notaufnahme, wenn wir den PatientInnen die Laborwerte zeigen, und diese nichts von ihrer Nierenfunktionsstörung wissen. Dann sehen wir uns Befunde aus den letzten 5 Jahren an und stellen fest, dass die PatientInnen die Funktions­störung schon lange Zeit hatten. Denn die ­PatientInnen spüren selbst diese Funktionsstörung nicht, und die Awareness bei den Hausärzten ist meistens sehr gering. Dann können wir im Spital nur mehr versuchen, die bestehende Restfunktion der Nieren zu erhalten…

 Präventivmedizin

 Ein präventiver Ansatz wäre in der Medizin natürlich immer besser. Wenn die Politik mehr auf Präventivmedizin setzen würde, dann würden einige Patienten später oder vielleicht gar nicht zu uns kommen müssen. Ein weiteres Problem ist, dass manche Menschen erst dann Veränderung in ihrem Leben herbeiführen wollen, wenn sie schon die Konsequenzen zu spüren bekommen. Das ist auch zutiefst menschlich. Menschen mögen nicht gerne Veränderungen. Es kann zwar sein, dass Menschen in fünf Jahren Diabetes bekommen, aber die Ärztinnen schlagen nur „ein bisschen gesündere Ernährung“ vor, und im Endeffekt passiert lange Zeit gar nichts. Der schleichende Prozess bis zur Insulinresistenz (= ausschlaggebende Punkt für Diabetes) wird erst ab einem gewissen Laborwert sichtbar. Viele PatientInnen schaffen den Absprung dann erst, wenn die ÄrztInnen mit der Insulinspritze drohen: „Wenn Sie jetzt nichts ändern, dann müssen Sie spritzen…“. Dann geht manchen PatientInnen erst der Knopf auf, und sie versuchen, es irgendwie rückgängig zu machen. Es wäre jedoch wesentlich besser von vornherein auf den gesunden Lebensstil zu achten um gar nicht erst an diesen Punkt zu gelangen.

Dr. Stefan Scherr:

Assistenzarzt in der Klinik Ottakring seit 2018 in der Nephrologie. Wissenschaftliche Arbeiten zu Ernährung und Niere.